#7 - Warum ich den Strukturvertrieb verlassen habe

08.10.2021

Strukturvertrieb, Pyramiden- und Schneeballsystem, Ponzi Scheme, Multi-Level Marketing, Network Marketing. Diese Begriffe klingen für viele nach Abzocke, Betrug und im besten Fall noch nach schmieriger Finanzberatung. Hier enthülle ich meinen "Insider"-Eindruck aus eigenen Erfahrungen und Gesprächen mit vielen Vertrieben aus der Finanzbranche. 

Vorwort:

Diesen Text habe ich vor einigen Wochen verfasst, weil ich mir dachte, dass viele andere junge Finanzberater:innen sicher einen ähnlichen Denkprozess durchlaufen und dort mehr Transparenz auch der Finanzbranche generell gut tun würden.

Das Ganze ist - wie der Titel schon zeigt - rein meine eigene Meinung, die sicher auch noch emotional eingefärbt ist und keine objektiv-rationale Argumentation. Außerdem möchte ich betonen, dass einige der Thesen sich auf meine Erfahrungen mit Strukturvertrieben im Allgemeinen beziehen, die ich bereits zuhauf gesucht und gemacht habe, nicht also spezifisch auf den Vertrieb, an dem ich angebunden war. Falls also jemand den herausfindet, dort ist die Arbeitsqualität weitestgehend sehr gut zumindest aus monetären Gesichtspunkten - jedoch nicht bzgl. Nachhaltigkeit. 

digital-sales.de: Strukturvertrieb
digital-sales.de: Strukturvertrieb

Ich schreibe diesen Text gerade in einer Zeit, in der ich erkannt habe, dass mein bisheriger Vertrieb nicht das richtige Umfeld für mich ist. Das ist keine schöne Realisierung, die ich auch lange ausgeblendet habe, da ein Vertriebswechsel und diese bloße Erkenntnis immer mit großen Anstrengungen verbunden ist - vor allem emotionalen. Da ich mit diesem Blog auch Finanzvermittler:innen ansprechen möchte, die über den Tellerrand ihres Unternehmens hinausschauen wollen, möchte ich hier einen Einblick in meine Situation geben und wie ich damit umgehe. Ich freue mich über jede daraus entstehende Diskussion :)

Erstmal das Warum: Warum passt mein aktueller Vertrieb nicht zu mir? Einerseits weil die Werte meines aktuellen Vertriebs nicht den meinen entsprechen. Andererseits weil die Vertriebsstruktur nicht zu meiner Arbeitsphilosophie passt. Doch was bedeutet das konkret?

Wie so viele in der Finanzdienstleistungsbranche hat mein Weg bei einem Strukturvertrieb begonnen. Und das ist auch per se nichts Schlechtes meiner Meinung nach. Strukturvertriebe sind wichtig, da sie Menschen ansprechen, die sonst nie mit Finanzthemen in Kontakt gekommen wären. Und mit dem Thema sollte sich jeder Mensch einmal auseinander setzen.

Ein Strukturvertrieb kann auch ein faires System sein. Man beginnt völlig unausgebildet und bekommt von Anfang an eine Vergütung während man eine Ausbildung durchläuft, neue Aufgabenbereiche übernimmt und dementsprechend höher vergütet wird. Alles andere gibt man nach oben an seine "Up-Line" ab - die Mentor:innen und die Mentor:innen der Mentor:innen, die diese Aufgaben übernehmen. In der Theorie macht auch jeder seine Aufgaben mit bestem Wissen und Gewissen und das Ganze ist eine gute Sache.

Wenn du der Typ dafür bist.

Wenn du in der Lage dazu bist, auch wirklich nur die Aufgaben zu machen, die du machen sollst. Und als Trainee ist das Akquise. Strukturvertrieb heißt nicht umsonst auf Englisch "network marketing". Es geht darum sein Netzwerk dem Vertrieb zugänglich zu machen. Das umfasst mehrstündigen Akquise-Sessions mit deinem Team, wo man sich gegenseitig pusht, die eigene Scheu zu überwinden, Freunde und Bekannte anzurufen, um sie zu "terminieren".

Doch woher kommt diese Scheu? Ist es nicht die Stimme, die dir sagt "jo, du hast hier noch gar nix verstanden, warum glaubst du, zu wissen, dass das gut geschweige denn gerade das Beste für den Freund oder die Freundin ist, den oder die du gerade anrufen sollst"? Wenn du wirklich WEIßT und umfassend einschätzen kannst, dass du der Person gerade einen riesen Gefallen tust und diese Beratung, zu der du sie terminierst, wirklich das Bestmögliche ist - wäre da dann in dir diese Scheu?

Ich mag den Tick haben - wie viele stark kognitiv, schwach ökonomisch motivierte Menschen - Dinge sehr genau prüfen zu wollen. Allerdings habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass sich diese Prüfung oft lohnt, denn viele Menschen stellen nicht gerade den höchsten Qualitätsanspruch an ihre Arbeit. Das gilt sicher insbesondere im Vertrieb. Die meisten Finanzberater sind geschulte Verkäufer, keine Finanzexperten, so wie ich den Begriff Experte definieren würde. Frag du doch mal deine:n Berater:in, warum die einzelnen Fonds in deinem Portfolio so viel Prozent ausmachen, wie sie es tun? Woran misst sich die genaue Zahl? Ich würde darauf wetten, dass 80 % der Berater:innen da anfangen massiv auszuweichen.

Nun bin ich zwar in einem relativ hochqualitativen Strukturvertrieb - für mich heißt das einerseits der unabhängige Maklerstatus (statt Vertreterstatus, siehe Instagram-Post neulich) und außerdem wünschenswert die Möglichkeit auf Honorar zu vermitteln. Außerdem sind die vermittelten Portfolien von Finanzwissenschaftlern übernommen und dementsprechend gut. Nichtsdestotrotz ist eine inhärente Eigenschaft vom Strukturvertrieb der Verschleiß: Es ist eine unglaublich hohe Herausforderung bei derart schnell und dezentral wachsenden Vertrieben die Qualität sicherzustellen. Warum? Weil nicht nach Qualität sondern Quantität entlohnt wird. Solange der Kunde kauft, war deine Beratung gut. Wenn du dabei rechtlich alles richtig gemacht hast, umso besser, aber das ist in manchen Vertrieben schon gar nicht mehr wichtig.

Danach ist auch die gesamte Vergütungsstruktur ausgerichtet. Du steigst auf mit Umsatz, nicht mit Kompetenz und Fähigkeit. Bist du jemand, der sich erst die Kompetenz aneignen und dann Umsatz schreiben möchte oder sogar die Kompetenz sogar schon hast, bist du im Strukturvertrieb falsch. Unternehmerisch schießt du dir damit ins eigene Bein. Natürlich kannst du dich dem Geschäftsplan beugen und all die Narrative glauben wie zum Beispiel, dass man ja nur mit der Unterstützung der Struktur erfolgreich ein Team aufbauen könnte.

Oder du kannst dir einen Geschäftsplan suchen, der zu dir passt. Und davon gibt es außerhalb der Strukturvertrieb-Bubble viele. Daher kann ich auch nur jedem empfehlen in den Testberatungen, die von guten Mentor:innen zu Beginn der Ausbildung ohnehin ermutigt werden, diese Bubble einmal zu verlassen. Geht zu Einzelmakler:innen oder Maklerverbunden und unterhaltet euch nach eurer "Enttarnung" über das Thema Strukturvertrieb mit jemandem, der auch die Alternative kennt.

Ein Anhaltspunkt: Leitest du deine eigenen Kundenprozesse von der Akquise über die Konzepterstellung bis hin zur Unterschrift, lasse dich nicht mit 30 oder 40 % des Firmenumsatzes bzw. ca. 15 bis 20 Promille abspeisen! Möglich sind hier auch 60-70 % bzw. ca. 30 bis 35 Promille bei gleichem Maß an Eigenverantwortung bzw. organisatorische und juristische Arbeitserleichterung durch den Vertrieb.

Mein zweiter Grund zum Wechsel des Vertriebs ist das Thema Werte. Ich möchte nachhaltigen Impact nicht als netten Nebeneffekt hinter Rendite stellen, sondern als gleichwertiges Zielparameter betrachten. Gerade in der Welt der Strukturvertriebe habe ich oft eine starke Dogmatik wahrgenommen mit Feindbildern und Retter-Fiktion. Man befreie ja die Finanzwelt von den Schlechten, ja Krimiellen auf dem Markt mit dem exklusiven Altersvorsorge-Produkt oder der exklusiven Investment-Expertise im eigenen Vertrieb. In diesem Umfeld ist es sehr schwierig offene Diskussion zu führen und das so exklusive Konzept zu hinterfragen.

Anfangs habe ich mir noch eingebildet, den Impact meiner Arbeit über die große und schnell wachsende Struktur potenzieren zu können. Aber ich habe die Wahrheit in dem Spruch "du kannst Menschen nicht ändern, sie müssen sich selbst ändern wollen" erkennen müssen. Wenn vom Unternehmen kein klares Commitment kommt, wird es sich niemals an dich anpassen. Im Gegenteil glaube ich, dass man die eigenen Ideen, die eigene Kreativität eher verwässert, wenn man nicht klar zu ihnen steht.

Aus diesen beiden Gründen tausche ich mich gerade mit verschiedenen Vertrieben aus und erwäge auch die Möglichkeit einer kompletten Eigengründung. Dabei sind mir folgende Punkte wichtig:

  • Unabhängiger Maklerstatus mit Zugriff auf den ganzen Markt idealerweise mit Option auf Honorarberatung
  • Ein kompetentes Umfeld, von dem ich lernen kann
  • Ein Umfeld, das meine Werte teilt und mich inspiriert
  • Möglichkeit unternehmerisch zu partizipieren
  • Freiheit meine Arbeit zu skalieren (ein Unternehmer tauscht nicht Zeit gegen Geld, ein Sozialunternehmer tauscht nicht Zeit gegen Impact)
  • Faire Vergütung meiner Arbeit

Ein Punkt noch zu einem Argument pro Strukturvertrieb: hierbei handelt es sich um eine angeleitete Selbstständigkeit. Die Hauptaufgaben deiner Mentor:innenen ist dein Mentoring, deine Anleitung und das rechtfertigt auch Abgabe von Teilen deines Provision oder deines Honorars. Allerdings stelle dir immer die Frage: würdest du für dieses Mentoring so viel Geld zahlen? Würdest du dieses Geld genau an diese:n Mentor:in zahlen?

Mentoring kannst du dir immer auch extern einkaufen von genau dem Mentor, den du am wertvollsten für dich hältst. Das kann auch unternehmerisch cleverer sein statt praktisch Anteile an deinem Unternehmen wegzugeben, was du letztlich im Strukturvertrieb tust.

Ich hoffe dieser Einblick war interessant für dich. Was hältst du von diesem Thema? Ich freue mich, auch deine Meinung zu hören.


Liebe Grüße

Dein Nik von

Finance 4Future